“Lernende sind systemrelevant”, heisst es momentan sogar von bürgerlicher Seite. Tatsächlich sind sie für viele Betriebe zurzeit von grosser Bedeutung. Ähnlich wie beim Pflegepersonal führt diese Feststellung jedoch zu keiner Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Im Gegenteil, Lernende ersetzen das ausgelernte Personal, welches auf Kurzarbeit ist, leisten Überstunden und tragen damit einen erheblichen Teil der wirtschaftlichen und gesundheitlichen Krise auf ihren Schultern.
Das Lernendenwesen im Schweizer Kapitalismus
Um die Entwicklung des Lernendenwesens während der Pandemie zu verstehen, müssen wir zuerst einen Blick auf die generelle Rolle der Lernenden in der Schweiz werfen. Das Lernendenwesen ist ein zentraler Bestandteil der wirtschaftlichen Struktur der Schweiz. Die Lehre ist für einen Grossteil der jungen Menschen in der Schweiz nicht nur eine Berufsausbildung, sondern auch eine «Lebensschule». So lernen Jugendliche schon früh, wie sie sich als Arbeiter:innen im Berufsalltag zu verhalten haben. Sie werden zu braven Lohnabhängigen erzogen und von Anfang an in das auf Profitmaximierung und Konkurrenz basierende kapitalistische Wirtschaftssystem integriert. Verschiedene Studien zeigen, dass Lernende meist schon während der Lehre oder in den ersten Jahren danach profitabel für ein Unternehmen sind.[1] Dies wird von Bildungsökonom:innen und Berufsverbänden auch offen propagiert. Sie argumentieren, dass die Betriebe gar keine Lernenden ausbilden würden, wenn eine «betriebswirtschaftliche Rentabilität» und ein «Nettonutzen» nicht gewährleistet wäre.[2]
Während der momentanen Pandemie zeigt sich zudem deutlich, dass Lernende junge Arbeiter:innen sind, die sich ab den ersten Jahren in Ausbildung in einem kapitalistischen Ausbeutungsverhältnis wiederfinden. Als Teil der Arbeiter:innenklasse sind sie direkt von der wirtschaftlichen Krise und den Massnahmen des Bundes und der Kantone betroffen. Dies zeigt sich sowohl bei der Lehrstellensuche, bei Personen die momentan in einem Lehrverhältnis stehen, sowie auch bei Lehrabgänger:innen. Trotz der Wichtigkeit des Lernendenwesens kommt dieses in der politischen Auseinandersetzung innerhalb der Linken oftmals nur als Randerscheinung oder gar nicht vor. Mit diesem Text wollen wir zu einer Debatte, über die Rolle der Lernenden im Kapitalismus und ihre momentane Situation während der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Krise anregen. Der Artikel soll auch eine linke Gegenposition zum in bürgerlichen Medien verbreiteten Narrativ darstellen.
Mehr zu einer marxistischen Einschätzung des Lernendenwesens findest du hier.
Auswirkungen auf das Bewerbungsverfahren und angehende Lernende
Die momentane gesundheitliche und wirtschaftliche Krise hat grosse Auswirkungen auf angehende Lernende. Der Bildungsökonom Stefan Wolter ging im Juni 2020 davon aus, dass durch die Pandemie im Jahr 2020 zwischen 5‘000 bis 20’000 weniger Lehrverträge abgeschlossen werden würden. Die Folgen der Krise würden erst 2025 ausgestanden sein.
Dieser prognostizierte Mangel an Ausbildungsplätzen war auch dem Bundesrat bewusst. Daher gründete der momentane Bundespräsident Guy Parmelin (SVP) zu Beginn der Pandemie die Task Force «Perspektive Berufslehre». Mit dem Ziel, möglichst viele der noch offenen Stellen zu vergeben, wurde beispielsweise die Ausgabe von Lehrverträgen bis Herbst 2020 verlängert und sogenannte Last Minute Verträge vergeben. Es ist davon auszugehen, dass die geringere Zahl von Lehrstellen und die Vergabe von solchen Last Minute Ausbildungsplätzen dazu führten, dass sich ein beträchtlicher Teil der angehenden Lernenden mit einer Notlösung zufriedengeben mussten und keine Ausbildung in der gewünschten Branche antreten konnten, was sich in absehbarer Zeit wahrscheinlich auch nicht ändern wird. Bürgerliche Medien, allen voran die NZZ, sehen dies sogar als Notwendigkeit an und fordern von den jungen Arbeiter:innen, die eigenen Wünsche zurückstecken und sich darauf zu konzentrieren, überhaupt in eine berufliche Ausbildung einsteigen zu können, um zu verhindern, dass sie sich „während Jahren mit Zwischenlösungen und Praktika über Wasser halten müssen.”
Die angehenden Lernenden stehen also vor der Wahl, eine Lehre zu beginnen, welche ihnen nicht zuspricht, oder sich mit schlecht bezahlten Praktika und Zwischenlösungen, was meist Arbeit in prekarisierten Arbeitsverhältnissen bedeutet, durchzuschlagen. Dass all diese Optionen nicht in ihrem Sinne sind, erklärt sich von selbst. Kommt noch hinzu: Überhaupt erst herauszufinden, was man lernen möchte, wird durch die momentane Situation zusätzlich erschwert. So ist beispielsweise die Möglichkeit, eine Schnupperlehre zu machen, je nach Branche nur online oder gar nicht möglich.
Schweizweiter Lehrstellenmangel
Beim Mangel an Lehrstellen zeigen sich auch regionale Unterschiede. In der Romandie und im Tessin ist er weitaus gravierender als in der Deutschschweiz. Dies bewegte einzelne Kantone dazu, zusätzliche Massnahmen zu ergreifen, mit dem Ziel, möglichst viele Lehrplätze zu schaffen und diese zu besetzen. Der Kanton Genf beispielsweise unterstützt Lehrbetriebe direkt finanziell, indem er die ersten Monatslöhne für angehende Lernende übernimmt und Prämien an Betriebe ausgibt, die erstmals Lehrplätze anbieten wollen.
Durch die Massnahmen von Bund und Kantonen konnte dem Lehrstellenmangel zumindest ein Stück weit entgegengetreten werden. Während in der Deutschschweiz bis Ende 2020 annähernd gleich viele Lehrverträge abgeschlossen wurden, ging die Zahl der abgeschlossenen Lehrverträge im Vergleich zum Vorjahr in der Westschweiz, trotz zusätzlicher Bemühungen, um 25%, im Tessin sogar um 45% zurück. Dies dürfte auch mit den längeren und strikteren Coronamassnahmen in den jeweiligen Regionen zusammenhängen.
Wo bei der Krisenbekämpfung die Prioritäten liegen, sieht man am Beispiel Genf ganz gut. Die kriselnden Unternehmen, welche ihre Profite bei Hochkonjunktur durch die Arbeit von Lernenden und der restlichen Arbeiter:innenschaft generieren, bekommen in Krisenzeiten die Lohnkosten vom Kanton abgenommen, um die Betriebe weiterhin zu „motivieren”, Lernende einzustellen. Diese Massnahme ist Teil einer bürgerlichen Politik, welche in Krisenzeiten die Kosten vergemeinschaftet und gleichzeitig die Profite der Unternehmen unangetastet lässt.
Die Ausbildung von Lernenden ist jedoch auch ohne kantonale Unterstützung kein Minusgeschäft. Dass sich eine „Investition in einen jungen Menschen” generell auch während Krisenzeiten lohnt, wird von Liberalen gerne betont. So wird die Lehre als “Win-Win Situation” beschrieben. Die Vorteile einer Ausbildung liegen dabei jedoch, wie schon weiter oben beschrieben, überproportional stark bei den Betrieben. Diese profitieren einerseits von der günstigen Arbeitskraft und andererseits von der „Lebensschule”, welche den jungen Arbeiter:innen schon früh die „richtige“ Arbeitsmoral einprägt. Der „Gewinn” der Lernenden ist oftmals nicht eine spannende und lehrreiche Ausbildung. Im Gegenteil müssen sie als billige Lohnarbeiter:innen die ökonomische und gesundheitliche Krise mit ausbaden.
Auswirkungen auf den Berufsalltag von Lernenden
Während für die Unternehmen Geld fliesst, gibt‘s für die Lernenden Überstunden. Die NZZ bezeichnete diese im Juni 2020, ähnlich wie die Angestellten im Gesundheitsbereich, als Held:innen der Pandemie und als systemrelevant. Während sich ihre gleichaltrigen Gspänli am Gymi über die mögliche Durchführung der Maturaprüfungen beschweren würden, sei von ihnen „kein Murren oder gar Proteste” zu hören, obwohl sie teilweise an vorderster Front bei der Bekämpfung des Virus dabei seien. Weiter wird ausgeführt, dass diese “Widerstandsfähigkeit” bei Lernenden auch während der kommenden Rezension von Nöten sein werde. Sie sollen während der momentanen Krise eine „dicke Haut” bewahren und sich einfach durch die widrigen Umstände durchbeißen, denn Unterstützung können sie nicht erwarten. Dieses Hochloben ist einerseits heuchlerisch, da es nicht die Aufgabe von Lernenden sein sollte, das Versagen der Politik auszubaden. Andererseits ist es machistisch, weil anstelle einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eines effektiven Schutzes gegen das Virus starke Lernende, die sich durch die Krise beissen können, gefordert werden.
Situation in feminisierten Berufen
Die Verlogenheit dieser Politik zeigt sich besonders stark in feminisierten Berufen, wie zum Beispiel dem Care Sektor (Betreuung, Pflege, Erziehung). Dort waren und sind Lernende als Teil der Arbeiter:innenschaft tagtäglich der Gefahr ausgesetzt, sich mit dem Virus zu infizieren. Während die Fallzahlen im Oktober 2020 wieder nach oben schnellten und das Gesundheitssystem, welches aufgrund jahrelanger Sparmassnahmen und Privatisierungen ohnehin nicht für eine Pandemie in solchem Ausmass gerüstet war, an den Anschlag kam, wurden grosse Teile der Wirtschaft von den Einschränkungen zugunsten des Profits ausgenommen, was eine konsequente Eindämmung des Virus verunmöglichte. Die Folgen dieser desaströsen Politik des Bundesrates werden auf den Schultern der Arbeitenden im Gesundheitsbereich und dessen Umfeld getragen. Für viele bedeutet dies nichts anderes, als sich täglich am Rande der psychischen und physischen Gesundheit zu bewegen. Mit einer Krisenpolitik, welche die Gesundheit der Bevölkerung in den Mittelpunkt stellt, hätten die Arbeiter:innen im Gesundheitswesen gar nicht erst die Rolle der schlecht bezahlten “Held:innen” einnehmen müssen. Besserung ist vorerst nicht in Sicht. Bis ein Grossteil der Bevölkerung geimpft sein wird und die Ausbreitung des Virus effektiv eingegrenzt werden kann, werden noch Monate vergehen. Bis dahin ist es zwingend notwendig, dass das Gesundheitspersonal durch eine konsequente und solidarische Coronapolitik, welche das Ziel haben muss, die Fallzahlen auf Null zu senken, entlastet wird. Nur so kann verhindert werden, dass das Gesundheitssystem und die darin arbeitenden Personen weiter an den Rand des Zusammenbruchs getrieben werden und die Pandemie noch zu tausenden weiteren Opfern führt.
Keine Kurzarbeit für Lernende
Auf konkrete Unterstützung warten Lernende bisher vergebens. Das Seco wollte ihnen ursprünglich bereits im März 2020 keine Kurzarbeitsentschädigung (KAE) auszahlen und begründete dies damit, dass die Lehre befristet sei und “primär Ausbildungscharakter” habe. Dies ist eine Verzerrung der Funktion von Lernenden im Kapitalismus. Lernende sind junge Lohnabhängige, welche entweder bereits während der Lehre oder spätestens danach Profite für das Unternehmen generieren und deshalb, genauso wie der Rest der Arbeiter:innenschaft, Anrecht auf Kurzarbeit haben.
Schlussendlich rang sich der Bund doch noch dazu durch, auch Lernenden Kurzarbeitsentschädigung zuzusprechen – allerdings nur für wenige Monate. Im Gegensatz zur Mehrheit der restlichen Arbeiter:innenschaft hatten Personen in einem Ausbildungsverhältnis seit Juni 2020 keinen Anspruch mehr auf Kurzarbeitsentschädigung. Diese Massnahme wurde damit begründet, dass diese möglichst bald wieder in die Arbeit im Betrieb eingebunden werden sollten, damit die Lücke, in welcher keine praktische Berufserfahrung gesammelt werden kann, möglichst klein bleibt. Mit diesem Entscheid setzte der Bundesrat wissentlich die Gesundheit von Lernenden aufs Spiel. Erst am 20. Januar 2021 entschied der Bundesrat, dass auch die Berufslehre bei der KAE wieder berücksichtigt werden soll. Die konkreten Folgen des mehr als ein halbes Jahr andauernden KAE-Ausfalls sollen durch die folgenden Beispiele aufgezeigt werden.
Beispiel 1: Hotel Glockenhof
Das erste Beispiel behandelt die Hotellerie. Die Zeitschrift des Hotellerieverband HTR spricht in einem Artikel vom Dezember 2020 davon, dass «kreative Lösungen» für die Weiterbeschäftigung der Lernenden gefragt seien, da diese ansonsten, aufgrund der fehlenden Kurzarbeitsentschädigung, ohne Lohn blieben. Dabei wird das 4-Sterne-Hotel Glockenhof in Zürich als Beispiel einer solchen kreativen Lösung genannt. Dort wird der Betrieb, aufgrund der tieferen Auslastung, momentan zu einem Grossteil von Lernenden bewältigt, während die ausgelernten Arbeiter:innen auf Kurzarbeit nach Hause geschickt wurden. Von den jungen Arbeiter:innen wird dabei “Engagement und Flexibilität” erwartet. Drei verschiedene Einsatzbereiche an einem Tag zu bewältigen, sind laut Hotelinhaber Mathias Suter keine Seltenheit. Nur so könne der “4-Sterne-Superior-Service” weiterhin sichergestellt werden. Im Klartext müssen im Glockenhof momentan 12 Lernende ein 91-Zimmer grosses Hotel beinahe im Alleingang verwalten, zum selben mickrigen Lohn wie zuvor. Sie müssen buchstäblich ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, damit Leute mit zu viel Geld auch während einer Pandemie in den Genuss eines “4-Sterne-Superior-Service” kommen. Andere Betriebe, welche im Moment ganz geschlossen haben, schicken ihre Lernenden teilweise in andere Hotels, um sie dort als günstige Arbeitskräfte einzusetzen. Brigitta Spalinger, Lehraufsicht Basel, besitzt sogar noch die Nerven, diese Massnahmen als “toll” zu beschreiben und den Ausbildungsbetrieben ein Kränzchen dafür zu binden, wie “trotz Kurzarbeit und Schliessungen, kreativ Lösungen gesucht und gefunden werden.“
Beispiel 2: Coiffeurbranche
Eine Lernende aus der Coiffeurbranche erzählt uns von ähnlichen Lösungsansätzen: Ein Teil der ausgelernten Arbeiter:innen wurden in Kurzarbeit geschickt und die Lernenden mussten einen sehr grossen Teil der Arbeit übernehmen, was bei ihnen zu 10-12 Stunden Arbeitstagen führte. Neben den Überstunden kommt auch das Streichen von beruflichen Weiterbildungstagen dazu. Obendrauf besitzt der Betrieb die Frechheit, die Lernenden darauf aufmerksam zu machen, dass im Frühling die Abschlussprüfungen seien und sie eine super Leistung von ihnen erwarten würden.
Der Chef verbot den Lernenden sogar in Quarantäne zu gehen und motivierte sie, z.B. in Restaurants falsche Personalangaben zu machen, um das Contact Tracing zu umgehen. Ein Mitarbeiter wurde positiv auf Covid-19 getestet, demzufolge hätte laut BAG der Betrieb schliessen müssen. Der Chef hat den Fall jedoch verheimlicht und lediglich kommuniziert, dass der Mitarbeiter für eine gewisse Zeit ausfallen werde.
Klar kann man jetzt sagen, dass der Chef mit seinem Verhalten einfach ein Arschloch sei und dies nichts mit der Krisenpolitik der Schweiz zu tun habe. Aber die politischen Entscheide, Kurzarbeit für Lernende auszusetzen, Quarantänen zu umgehen oder überbetriebliche Kurse zu streichen, und die Rentabilität der Betriebe über die Gesundheit der Arbeitenden zu setzen, begünstigen dieses Handeln. Der Bundesrat erhöht damit den ohnehin schon bestehenden ökonomischen Druck auf die Unternehmen und lässt ihnen oftmals keine andere Wahl, als das Weiterlaufen der Betriebe an die Lernenden zu delegieren, um wirtschaftlich überleben zu können.
Ob irgendeine dieser “kreativen Lösungen” dem angeblichen Ziel des Bundesrates dient, die Lehrausbildungen möglichst in ursprünglicher Form weiterlaufen zu lassen, ist mehr als fraglich. Auch die Argumentation des Seco vom letzten März, dass die Lehre primär ein “Ausbildungsverhältnis” sei, erscheint vor dem Hintergrund, dass Lernende das Funktionieren ganzer Betriebe in die eigene Hand nehmen müssen, doppelt zynisch.
Die Gewerkschaften lassen die Lernenden im Stich
Auch die Gewerkschaften übernehmen ihre Verantwortung nicht. Über die problematischen Bedingungen, welchen die Lernenden aufgrund der fehlenden KAE ausgesetzt sind, verloren sie kein Wort. Stattdessen verwiesen sie lediglich auf die momentan geltenden Regulierungen der KAE. Auch ihre Vorschläge, mit denen die Arbeiter:innen besser vor der Pandemie geschützt werden sollen, beschränken sich auf Schutzkonzepte am Arbeitsplatz. Von eigentlich notwendigen Betriebsschliessungen ist keine Rede. Statt nach einer sozial und gesundheitlich verträglichen Gesamtlösung zu suchen, wird die Krisenbewältigung individualisiert. Dies soll hier exemplarisch am Beispiel UNIA aufgezeigt werden.
Ende März 2020, wenige Wochen nach den ersten Massnahmen des Bundesrates, schrieb UNIA-Präsidentin Vania Alleva in der hauseigenen Zeitung “Work”, dass die UNIA keine weiteren Massnahmen, aber die konsequente Umsetzung der bestehenden, fordere. Die Verantwortung dafür übergab sie den Arbeiter:innen:
“Die Massnahmen sind wichtig für den Schutz unserer Gesundheit. Und – soweit ich das beurteilen kann – entscheidend für die Eindämmung der Pandemie. Wir verlangen deshalb, dass sie auch tatsächlich umgesetzt werden. Bei den Bauleuten, den Verkäuferinnen, dem Zugpersonal, den Pflegerinnen und Pflegern, den Handwerksleuten und den Mitarbeitenden in der Industrie.”
Diese Linie zieht sich durch die gesamte Pandemiepolitik der UNIA. So antwortete Mauro Moretto, verantwortlich für das Gastgewerbe bei der UNIA, im Mai 2020 auf die Kritik von Gastro-Angestellten, welche die ausgearbeiteten Schutzkonzepte zur Wiederaufnahme des Gastrobetriebs als realitätsfremd und nicht umsetzbar beschrieben, dass die Angestellten bei zu engen Platzverhältnissen halt “Hygienemasken oder Visiere” tragen sollen, um sich zu schützen.
Die Maske als Allheilmittel scheint bei der UNIA bis heute Programm zu sein. So antwortete sie im Januar auf die prekären Bedingungen auf Zürcher Baustellen und die Unmöglichkeit, die Hygienevorschriften einzuhalten, nicht etwa mit der Forderung nach einer Schliessung dieser Baustellen, sondern mit der völlig unzureichenden Forderung, gratis Schutzmasken bereitzustellen.
Gestrichene Kurse und Home Schooling
Die Pandemie hatte je nach Branche auch Auswirkungen in Bezug auf die Abschlussprüfungen und schaffte generell ungleiche und erschwerte Ausbildungsbedingungen. So fielen überbetriebliche Kurse (drittes Standbein der Ausbildung neben Betrieb und Berufsschule) vielfach aus. Ein grosser Faktor ist unter anderem die Umstellung auf Home Schooling. Auch wenn wir diese als notwendige Massnahme in der Pandemiebekämpfung ansehen, stellt es auch eine zusätzliche Belastung für die Lernenden dar. Neben der prekarisierten Arbeitslage wird erwartet, dass in der Berufsschule via Home Schooling der gleiche Inhalt verstanden wird, wie während dem Präsenzunterricht. Dies betrifft diejenigen Lernenden am stärksten, die diesen oder letzten Sommer ihre Lehre angefangen haben. In vielen Lehrberufen ist das erste Jahr in der Berufsschule das wichtigste, da dort die theoretischen Grundlagen für den Beruf erlernt werden. Diverse Studien zeigen auf, dass man im Fernunterricht weniger lernt. Aufgrund der momentanen Pandemielage ist klar, dass die Berufsschulen schliessen müssen, bis wir nahezu Null Ansteckungen am Tag erreichen. Es muss unbedingt ein Plan erarbeitet werden, wie Lernende ihre Ausbildung ohne Lerneinbussen absolvieren und abschliessen können. Das heisst auch, dass die Abschlussprüfungen an die erschwerten Lernbedingungen angepasst werden müssen.
Folgen für die Arbeit nach der Lehre
Da die Lehre ein relativ sicheres, aber auch befristetes Arbeitsverhältnis darstellt, sind die Auswirkungen von Pandemie und Krise für Lehrabgänger:innen umso heftiger. Die Arbeitslosenstatistik des Seco zeigt, dass die Arbeitslosigkeit von 20-24-Jährigen im November im Vergleich zum Vorjahresmonat um mehr als 50 Prozent gestiegen ist. Ursula Reynold, Forscherin zu Bildungsfragen an der ETH Zürich, ging im Spätsommer 2020 davon aus, dass «eine der Ursachen für die hohe Jugendarbeitslosigkeit im August 2020 Lehrabgänger:innen, welche keinen Job gefunden haben, seien. 70’000 Lernende haben letzten Sommer ihre Lehre abgeschlossen. 28 Prozent der Lehrbetriebe, die im August befragt wurden, sagten, es sei für ihre Lernenden schwieriger, einen Job zu finden, als im Vorjahr. Zwar hat der Bundesrat mittlerweile mit Massnahmen reagiert. So wurde unter anderem der Einstellungsstopp bei Betrieben auf Kurzarbeit für die Weiterbeschäftigung von Lehrabgänger*innen ausgesetzt. Wie die Statistik des Secos zeigt, bleibt die Arbeitslosigkeit bei jungen Person jedoch auf hohem Niveau.
Die erhöhte Arbeitslosigkeit von jungen Arbeiter:innen steigert zudem das Risiko, in prekären Anstellungsverhältnissen zu Arbeiten. Dies ist ein Problem, mit welchem grosse Teile der jungen Arbeiter:innen zu kämpfen haben. Oftmals arbeiten sie in befristeten Arbeitsverhältnissen, im Stundenlohn oder gar in Scheinselbständigkeit und haben daher unter anderem einen noch schwächeren Kündigungsschutz. Zudem nehmen Sie die Rolle einer “industriellen Reservearmee” ein: Sie sind für die Betriebe eine flexible Manövriermasse, die je nach Konjunktur- und Krisenverlauf eingesetzt werden kann.
Solidarität gegen die drohende Prekarisierung der Jugend
Lernende als Teil der Arbeiter:innenklasse haben ein fundamentales Interesse daran, Arbeitsrechte zu verteidigen und einer Abwälzung der Krise auf Lohnabhängige kämpferisch entgegenzuwirken. Auch die Zusammenarbeit zwischen Lernenden und Gymnasiast*innen sehen wir als wichtig an. Denn spätestens während des Studiums sind viele der ehemalige Gymischüler:innen dazu gezwungen, zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes prekäre Arbeitsverhältnisse einzugehen. Statt wie die NZZ den “verwöhnten” Gymnasiast:innen die durchhaltefähigen Lernenden gegenüberzustellen, setzten wir uns für Solidarität unter den Arbeiter:innen, Schüler:innen und Student:innen ein. Neben der gemeinsamen Gefahr prekarisierter Arbeitsverhältnisse, stellt die Forderung nach Umstellung von Präsenzunterricht zu Home Schooling ein weiterer Verbindungspunkt dar. Während Arbeiter:innen, wo immer möglich, ins Home Office geschickt werden, findet der Unterricht an den meisten Berufsschulen und Gymis noch immer im Präsenzunterricht statt. Die Universitäten haben zwar auf Home Schooling umgestellt, trotzdem finden Prüfungen mit teilweise über 100 Personen in einem Raum statt. An der Berufsmaturitätsschule St. Gallen streikten die Schüler:innen gegen die Präsenzpflicht und setzten sich durch. Auch an mehreren Gymis regte sich im letzten Frühling gegen die schweizweit uneinheitliche Umsetzung der Maturaprüfungen Widerstand. Die Schüler:innen forderten eine Absage der Abschlussprüfungen, da die Durchführung epidemiologisch nicht tragbar sei. Das Lernendenkollektiv zeigt sich solidarisch mit diesen Kämpfen.
Ausblick
Sowohl bei der Bildung wie auch am Arbeitsplatz muss die Gesundheit der Schüler:innen und Arbeiter:innen oberste Priorität haben. Für uns ist klar: Wir können uns nicht auf Parlament und Bundesrat verlassen und müssen es den streikenden St. Galler Berufsschüler:innen gleichtun und den Widerstand gegen die gesundheitsgefährdende Politik selbst in die Hand nehmen. Denn Alternativen gibt es. So unterstützt das Lernendenkollektiv den Aufruf der ZeroCovid-Kampagne, welche sich für die solidarische europaweite Schliessung aller gesellschaftlich nicht notwendigen Wirtschaftsbereiche einsetzt, bis die Fallzahlen auf Null sinken und nachvollziehbar sind. Das Geld zur Finanzierung dieses radikalen und solidarischen Lockdowns wäre vorhanden. Die besitzende Klasse, welche über Jahre aus der Arbeit von Lohnabhängigen gewaltigen Reichtum akkumuliert hat, soll dafür aufkommen. Nur so kann verhindert werden, dass Lernende ihre eigene Gesundheit für den Luxus einiger Weniger und das Wohl der Wirtschaft gefährden müssen.
Wer wir sind
Wir sind junge linke Lernende und ehemalige Lernende aus dem Raum Zürich. Wir engagieren uns für die Rechte von Lernenden und setzen uns für bessere Arbeitsbedingungen während der Lehre ein. Als teil der Bewegung für den Sozialismus setzen wir uns für eine antikapitalistische revolutionäre Perspektive im Lernendenwesen und überall ein. Da wir allein nichts erreichen können, haben wir uns zusammengeschlossen und das Lernendenkollektiv gegründet.
[1] Strupler, Mirjam; Wolter, Stefan C.: Die duale Lehre: eine Erfolgsgeschichte – auch für die Betriebe, Bern 2012.
[2] Interieursuisse: Lernende. Freude oder Frust? Solothurn 2017/18.